Mein Kind hat eine Behinderung

Anne (31) und Roland (33) wollten immer viele Kinder. Nach Lea (6) und Lukas (3) war schließlich das dritte Kind unterwegs. In der 24. Schwangerschaftswoche (SSW) wurde bei Lara das DiGeorge Syndrom diagnostiziert. Es war eine etwas “andere” Schwangerschaft – voller Freude, Angst, Zweifel und Sorge. Doch mit einem Ende, das schöner nicht hätte sein können.
“Da war es! Unser drittes Baby konnte ich als kleines Pünktchen auf dem Ultraschallbild erkennen. Meine Ärztin strahlte: “Glückwunsch, Sie sind in der sechsten Woche.” Die Untersuchungen absolvierte ich schon in bewährter Routine. Hatte mich Roland in der ersten Schwangerschaft noch zum Ultraschall begleitet, beschränkte sich diesmal seine Anteilnahme auf ein “Und, alles in Ordnung?”
Auch in dieser Schwangerschaft ging es mir sehr gut. Glücklicherweise ergaben sich beim Ersttrimesterscreening keine Auffälligkeiten, so haben wir unseren großen Kindern bei einem Pizzaessen vom neuen Kind erzählt. Lea wollte gern mit zum nächsten Ultraschall.
So fuhren wir in der 20. SSW gemeinsam in die Praxis - alles schien gut zu sein, doch zum Schluss sagte meine Ärztin: “Der Magen stellt sich etwas vergrößert dar.” Ich wurde nervös. “Das möchte ich gern bei einem Spezialisten klären lassen.”
Lea und ich fuhren mit dem Fahrrad heim. Mir rannen Tränen über die Wangen, während Lea vornweg strampelte. Vielleicht war der Verdacht ja auch unbegründet … Zu Hause angekommen, begrüßte uns Roland mit seinem “Und, alles in Ordnung?” Prompt standen mir wieder die Tränen in den Augen. “Nein, der Magen ist etwas zu groß.” Trotzdem blickte ich optimistisch in die Zukunft. Einige Tage später, auf unserer Fahrt zur Pränataldiagnostik, verließ mich jedoch die Zuversicht. Nervös verfolgte ich auf einer riesigen Leinwand die Ultraschalluntersuchung. Schon bald kamen die beruhigenden Worte: “Nein, mit dem Magen ist alles ok.” Ich atmete auf. Doch dann wandte sich der Arzt ausführlich an uns. “Das, was Ihre Ärztin als Auffälligkeit entdeckt hat, war wohl die linke Niere. Sie ist etwas vergrößert und es lassen sich auch Zysten darin erkennen. Die andere Niere ist aber in Ordnung und das Herz auch. Allerdings verläuft die Aorta, die normalerweise in einem linken Bogen vom Herz abgeht, in einem weit ausladenden rechten Bogen.”
Da saßen wir nun in einem Wechselbad der Gefühle. Die kurze Freude wurde abgelöst durch Ungewissheit. Wir stimmten einer Fruchtwasseruntersuchung und einer Nabelschnurpunktion zu. Roland sagte auf dem Rückweg: “Also, ein behindertes Kind, das kann ich aber nicht.” Woraufhin ich sofort wieder in Tränen ausbrach. “Aber abtreiben, das kann ich nicht”.
Der Anruf mit den Ergebnissen kam früher als erwartet: “Wir haben bei Ihrem Kind eine Auffälligkeit bei den Chromosomen festgestellt. Bei dem 22. Chromosom fehlt ein kleines Stück. Das Ganze nennt sich Mikrodeletion 22q11. DiGeorge Syndrom. Aber was das jetzt für Sie und Ihr Kind bedeutet, darüber klärt Sie unser Genetiker auf.” Ich schrieb mir den Namen des Syndroms auf, um ihn nicht zu vergessen. Es war der schlimmste Tag meiner Schwangerschaft. An jenem Tag fragte mich eine Erzieherin aus Lukas’ Kita, ob alles in Ordnung sei. Ich erzählte weinend von der Diagnose. Sie reagierte wundervoll: “Anne, besondere Kinder suchen sich ihre Eltern eben aus.” Ich war so gerührt. Mit dem Zettel “DiGeorge Syndrom” lief ich später zum Computer, um Genaueres zu erfahren. Es las sich so furchtbar:
“Die Vielfalt der möglichen Probleme und Komplikationen fordert eine ganzheitliche und langjährige Betreuung.”Oder: “Ein letzter und ungelöster Aspekt ist die ethische Bedeutung einer solchen Diagnose: Seitdem eine pränatale Diagnose möglich ist und sogar bei vorliegenden Missbildungen angestrebt wird, kann das Vorliegen oder Fehlen der Deletion 22q11 als entscheidendes Argument für eine Austragung oder Beendigung der Schwangerschaft verwendet werden.”
Insbesondere der letzte Satz machte mir zu schaffen. Sollte alles wirklich so schlimm sein, dass unser Baby keine lange Überlebenschance haben würde? Heulend entschied ich mich, einfach auf den Termin beim Genetiker am nächsten Tag zu warten.
Bei unserem Baby war ein kleines Stück des 22. Chromosoms verlorengegangen. Der Genetiker betonte aber auch, dass die bisherige Diagnose bei unserem Kind nichts Furchtbares ergeben habe. Bisher waren ja nur der Aortenbogen und die zystische Niere auffällig. Er klärte uns ausführlich auf und stellte die Problembereiche unseres Babys vor: Zum einen war da die Anfälligkeit des Immunsystem. Die könnte sich schwach oder stärker ausprägen, da Kinder mit diesem Syndrom oft keine Thymusdrüse haben, die u. a. für das “Lernen” des Immunsystems zuständig ist. Zu überwachen sei auch ein möglicher Kalziummangel nach der Geburt, den man aber medikamentös einstellen könne. Eine äußere Lippen-Kiefer-Gaumenspalte könnte in einem Ultraschall ausgeschlossen werden. Zwar wäre auch noch eine versteckte Spalte im Mund nicht auszuschließen, dazu könne man aber erst nach der Geburt etwas sagen. Auch könnten geistige und motorische Entwicklungsverzögerungen vorkommen, aber ob überhaupt und in welchem Maße, würde sich erst in der Kindheit herausstellen.
Es schien mir so, als könne unser Baby “alles und nichts” haben, aber es hörte sich alles nicht so schlimm an wie befürchtet. Von dem Moment an war uns klar, dass wir mit einem behinderten Kind leben könnten. “Wenn ich weiß, dass unser Kind vielleicht etwas langsamer sein wird als andere, dann ist das doch vollkommen in Ordnung. Anders ist es doch, wenn ein ‘gesundes’ Kind sich nicht richtig entwickelt”, sagte Roland. Von diesem Moment an war Lara für Roland ein besonderes und zugleich normales Baby. Unsere Familien, Freunde, die Hebamme und zuletzt auch der Elternverein Kids 22q11 (Selbsthilfegruppe für Betroffene des DiGeorge Syndroms) unterstützten uns wunderbar. Wir blickten Laras Geburt gelassener entgegen.
Für uns war es sehr positiv, schon vor der Geburt von dem Syndrom unserer Tochter zu erfahren. So konnten wir nach dem Schreck das Beste aus unserer Situation machen. “Wir schaffen das schon” wurde zu unserem Motto. Ich liebte die sanften Tritte im Bauch und genoss die Schwangerschaft bis zum Schluss. Erst nach dem Abnabeln würde sich zeigen, ob Lara gut “alleine” zurechtkommen würde.”
Lara wurde natürlich geboren. Sie hatte nach der Entbindung keinerlei Probleme und konnte nach einer Nacht in der Kinderkardiologie auf die Säuglingsstation verlegt werden. Lara ist ein wunderbar fröhliches und ausgeglichenes Kind. Von Anfang an versprüht sie ihren Charme auch bei den Kontrollen im Krankenhaus und beim Kinderarzt. Sie ist zwar etwas klein für ihr Alter, aber altersgemäß entwickelt. Glücklicherweise waren keine Operationen nötig. Ein Leben ohne sie ist gar nicht mehr vorstellbar.
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